Die schwersten Pflegefälle fallen zuerst durchs Raster
Pflegebedürftige als Kunden abzulehnen, gehört mittlerweile zum Alltag von Pflegediensten. Genauso wie Kündigungen von besonders schwierigen Fällen, weil die Pflegeanbieter dabei drauflegen und sie kein Personal dafür finden. "Pflege-Triage" heißen solche Situationen, und darüber diskutierte die Initiative Ruhrgebietskonferenz Pflege mit teils drastischen Beispielen und ohne Zuversicht, dass sich die Situation in naher Zukunft verbessern könnte.
Der Mann ist 90, schwer pflegebedürftig, mit Pflegegrad 5. Seine gleichaltrige Frau pflegt ihn seit fast zehn Jahren zu Hause, doch inzwischen braucht sie selbst Hilfe. Die Tochter versorgt ihren Vater vor und nach der Arbeit, dazwischen schaut dreimal am Tag ein Pflegedienst vorbei. Jetzt hat der Pflegedienst gekündigt. Ersatz ist nicht zu finden und in einer Tagespflege gibt es auch keinen Platz. Wie es weitergehen soll, weiß niemand.
Edeltraut Hütte-Schmitz, Geschäftsführender Vorstand des Vereins Wir pflegen, kann viele solche Geschichten erzählen. Zum Alltagsleid der Betroffenen kommt finanzielle Ungerechtigkeit. Denn eigentlich hätte der 90-jährige Mann im obigen Beispiel Anspruch auf 1.995 Euro für eine Tagespflege, seine Frau mit Pflegegrad 4 auf 1.612 Euro, rechnet Hütte-Schmitz auf dem Pflege-Triage-Gipfel der Ruhrgebietskonferenz Pflege vor. Doch beide gehen leer aus, weil sie keine Tagespflege finden und dieses Geld nur dafür genutzt werden darf. Und ohne neuen Pflegedienst gibt es auch keine Pflegesachleistung.
Jedes Jahr verfallen Leistungsansprüche in Milliardenhöhe
Für Hütte-Schmitz sind das die "leeren Versprechungen der Pflegeversicherung". Denn Geld gibt es in der häuslichen Pflege nur für Leistungen, und die sind nicht zu bekommen. In Summe habe ein Mensch mit Pflegegrad 5, der zu Hause lebt, Anspruch auf rund 50.000 Euro für Pflegesachleistung durch ambulante Dienste (26.400€) und Tagespflege (23.940€). Wenn für beides keine Anbieter zu finden seien, gebe es auch kein Geld.
Hochgerechnet würden damit in Deutschland pro Jahr Leistungsansprüche in Höhe von 74 Milliarden Euro verfallen, so Hütte-Schmitz. Sie fordert deshalb ein flexibel nutzbares Budget für die häusliche Pflege. Das dürfte aber nicht kommen, weil das nicht finanzierbar sei, ließ Martin Schölkopf vom Bundesgesundheitsministerium auf dem Pflege-Triage-Gipfel durchblicken.
Besonders hart trifft die Pflege-Triage Menschen, die auf Spezialpflege angewiesen sind. Nicole Wern, Geschäftsführerin eines Ärztehauses, zeigte auf dem Online-Event Bilder von chronischen Wunden und erzählte die persönlichen Leidensgeschichten dahinter. Pflegedienste würden kündigen und immer weniger Anbieter seien bereit, Wundpatienten zu betreuen. Am Ende bleibe das an Angehörigen hängen, die fachlich und psychisch damit überfordert seien. Hier müsse man darüber nachdenken und auch angelernte Hilfskräfte einzusetzen. Das sei besser, als die Menschen allein zu lassen.
Die Selbstverwaltung des Gesundheitswesens versagt
Der Fachkräftemangel ist aber nicht allein Schuld an der Pflege-Triage. Auch das Versagen der Selbstverwaltung trage dazu bei, sagt Christian Westermann vom Pflegedienst Engel vonne Ruhr. Zwar habe der Gemeinsame Bundesausschuss G-BA die Häusliche Krankenpflege-Richtlinie (HKP) verabschiedet, doch es gebe nach wie vor keine Vergütungsvereinbarung. "In den letzten anderthalb Jahren ist von Seiten der Kostenträger gar nichts passiert", sagt Westermann. Und ohne auskömmliche Vergütung lehnten es viele Pflegedienste ab, die Versorgung chronischer Wunden zu übernehmen.
Hier versage die Selbstverwaltung, waren sich die Anbieter einig und fordern die Politik auf, Druck auf die Kassen zu machen, sich endlich zu bewegen. Schließlich hätten die Kostenträger den Versorgungsauftrag und würden dem nicht gerecht werden. Doch die Hoffnung, dass sich hier etwas ändert, ist nicht besonders groß. Unter den Akteuren in der Pflege macht sich eher Resignation breit. Dem Kernproblem, mit immer weniger Menschen immer mehr Pflegebedürftige zu versorgen, komme man mit dem bestehenden System nicht bei, klang durch. Doch ein Systemwechsel in der Pflege, wie er von manchen gefordert wird, ist auch nicht in Sicht.
Thomas Hartung