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3. Juli 2024 | 21:31 Uhr
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"In einer Woche ein Dutzend Insolvenzen auf den Tisch"

Auf dem Markt für ambulante Pflegedienste tummeln sich gerade große Pflegegruppen aus dem In- und Ausland, Start-up-Holdings und Pflegedienstleiter, die sich selbstständig machen wollen. Unter Verkaufsdruck sind Baby-Boomer und Insolvenzverwalter, erzählt Unternehmensberater Stefan Wiesmann im Interview mit Care-vor9-Chefredakteur Thomas Hartung. Die Zahl der Pleiten sei rasant gestiegen.

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Stefan Wiesmann berät und vermittelt ambulante Pflegedienste

Herr Wiesmann, Sie helfen, Pflegedienste zu verkaufen. Gibt es angesichts der großen Probleme in der Pflegebranche überhaupt einen Markt dafür?

Bei stationären Einrichtungen sind die Transaktionen praktisch zum Stillstand gekommen. Anders bei ambulanten Pflegediensten. Hier gibt es ein reges Geschäft. Der Pflegebedarf wird künftig ja noch größer.

Wer hat Interesse an Pflegediensten?

Es gibt viele Interessenten. Mehr als 150 Pflegegruppen, vom Marktführer bis zur Start-up-Holding, kaufen weiter zu. Daneben strecken auch internationale Konzerne aus Frankreich, Tschechien, China, Großbritannien und den USA ihre Fühler aus. Es gibt aber auch Pflegedienstleiter, die sich selbstständig machen wollen. Dann ist es besser, einen bestehenden Pflegedienst zu übernehmen statt bei Null anzufangen.

Und wer will verkaufen?

Vor allem die Inhaber der Baby-Boomer-Generation wollen oder müssen jetzt verkaufen. Außerdem kommen viele insolvente Pflegedienste auf den Markt. Immer öfter klopfen Insolvenzverwalter bei uns an und versuchen, zu versilbern was noch zu versilbern ist. Diese Entwicklung ist dramatisch. Zuletzt haben wir in einer Woche ein Dutzend Insolvenzen auf den Tisch bekommen. Die meisten aus Berlin, Bayern und Nordrhein-Westfalen.

Wie viel ist ein Pflegedienst wert?

Das kann man so pauschal nicht sagen. Das hängt von Standort, dem Team, dem Kundenstamm und anderen Voraussetzungen ab. Für eine Ersteinschätzung gibt es aber Regeln, um den Wert grob zu überschlagen. Nehmen wir ein typisches mittleres Beispiel: Ein Pflegedienst mit 120 Patienten erzielt einen Jahresüberschuss vor Zinsen und Steuern (EBIT) von 200.000 Euro. Davon wird bei der Ersteinschätzung das Geschäftsführergehalt 80.000 Euro abgezogen und die verbleibenden 120.000 Euro mit einem sogenannten Multiple malgenommen. Dieser Faktor liegt aktuell für insolvente Betriebe bei 1,2 bis 2,0 und für rentable, etablierte Pflegedienste je nach Standort und Ausbaufähigkeit bei 2,5 bis 5,0. Wir haben aber auch schon einige große Pflegedienste mit einem Multiple von 6 und höher verkauft.

Wir berichten beinahe jeden Tag über Insolvenzen. Ist die Lage wirklich so dramatisch?

Nein, noch nicht. Wir stehen am Anfang. Die Pflegebranche ist auch keine Ausnahme. Der komplette Dienstleistungsbereich in Deutschland verzeichnet aktuell 35 Prozent mehr Insolvenzen. Da spielt die natürliche Nach-Corona-Marktbereinigung auch eine Rolle. Nach meiner Einschätzung wird sich die Situation in der Pflege ab Januar 2025 weiter verschärfen; dann rechne ich mit mehr Insolvenzen.

Warum?

Weil der Gesetzgeber nicht den Mut oder das Know-how hat, eine wirklich große Pflegereform auf den Weg zu bringen. Die Refinanzierung der Vorfinanzierung der Pflegeträger und Sachleistungsausgleich werden außerdem maximal halbherzig angegangen. Pflegeunternehmen bekommen einfach keine verlässliche Planungssicherheit.

Haben nur die kleinen Pflegedienste Probleme?

Nein, das geht durch alle Betriebsgrößen. Holdings und konfessionelle Träger können dies aber intern oft ausgleichen. Ich glaube aber unabhängig davon, dass der einzelne Pflegedienst-Familienbetrieb bis 100 Patienten ein Auslaufmodell ist und von größeren Verbünden und Hybridmodellen abgelöst wird.

Was sind die größten Herausforderungen für Pflegedienste?

Im Grunde sind es vier große Bereiche. Natürlich ist das Personal der größte Engpass. Hier geht es um die Stabilisierung des Teams und die Gewinnung neuer Mitarbeiter. Das zweite ist die oft späte und unzureichende Refinanzierung durch die Kostenträger. Der dritte Punkt ist für mich das Fuhrparkmanagement und schließlich die Gegenfinanzierung der Pflegesachleistungen durch die Pflegekassen, die auf wackeligen Füßen steht.

Was können Pflegedienste in der Krise selbst tun?

Da gibt es vieles. Am wichtigsten ist es, das Personal zu motivieren und bei der Stange zu halten. Dann müssen sämtliche Kosten auf den Prüfstand gestellt werden. Außerdem braucht es ein konsequentes kompromissloses Forderungsmanagement, das ein externer Dienstleister übernehmen sollte. Von großer Bedeutung ist zudem eine effiziente Tourenplanung mit digitalisierter Dokumentation. Es gibt für die Inhaberinnen und Inhaber viel zu tun, aber sie benötigen auch die politische und finanzielle Förderung.

Stefan Wiesmann ist Unternehmensberater und begleitet Übernahmen von Pflegediensten. Er war über 15 Jahre als Führungskraft und Unternehmer in der IT- und Medienbranche aktiv und wechselte 2017 in den Gesundheitssektor. Wiesmann ist Lehrer für Gesundheitsberufe und Mediator. Seit 2004 doziert er an Hochschulen. Aktuell hält er Lehraufträge in eHealth, Gesundheitsmanagement und BWL.

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