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19. Juni 2023 | 17:14 Uhr
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"Verdreifachung internationaler Pflegekräfte ist machbar"

Sind internationale Pflegekräfte ein Allheilmittel für den Personalnotstand in deutschen Pflegeeinrichtungen? Was ist realistisch und was muss bei uns passieren, um mehr Menschen aus dem Ausland für den Beruf zu gewinnen? Fragen von Care vor9 an Robert Mittelstädt (Foto), Co-Initiator der Initiative Match für die Integration internationaler Fachkräfte, und Anerkennungsexperte für Pflegeberufe beim Sprachanbieter Lingoda.

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Robert Mittelstädt hält eine Verdreifachung internationaler Pflegefachkräfte in Deutschland für machbar – aber nur mit deutlicher Vereinfachung der Anerkennung und Abbau von Bürokratie

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Zehntausende Pflegefachkräfte fehlen in Deutschland, Tendenz steigend. Können Fachkräfte aus dem Ausland das ausgleichen?

Nein, natürlich nicht alleine. Internationale Fachkräfte können nur ein Baustein bei der Lösung des Problems sein. Wir haben hier ein strukturelles Problem mit Pflegefachkräften in Deutschland, weil es nach den geburtenstarken Jahrgängen schlicht weniger junge Leute gibt. Um den Bedarf an Pflegefachkräften zu decken, müsste ohne Anwerbung ansonsten jeder dritte inländische Schulabgänger eine Ausbildung in der Pflege absolvieren. Dies erscheint unrealistisch. Deshalb brauchen wir neben der verstärkten Ausbildung junger Leute aus Deutschland, Quereinsteiger aus anderen Berufen, Rückkehrer in die Pflege, aber eben auch die Fachkräfte aus dem Ausland. Ohne Zuwanderung wird es auf keinen Fall gehen.

In Zahlen gesprochen, wie viele Pflegefachkräfte könnten denn realistisch gesprochen nach Deutschland geholt werden?

Das lässt sich sehr schwer einschätzen, auch der tatsächliche Bedarf. Verschiedene Studien gehen davon aus, dass wir in den nächsten zehn Jahren 200.000 bis 300.000 zusätzliche Pflegefachkräfte brauchen, um die Lücke der Abgänge aus der Pflege zu schließen. Wenn alles super laufen würde, könnten wir pro Jahr vielleicht zwischen 10.000 und 20.000 internationale Fachkräfte gewinnen, inklusive der Personen aus dem Ausland, die wir hierzulande in der Pflege ausbilden. Aber nur dann, wenn wir das Visumsverfahren beschleunigen, die Anerkennungsverfahren verbessern sowie die Qualifizierung und Sprachkurse schon im Herkunftsland mehr fördern.

Sie sagen, im Optimalfall wären 10.000 bis 20.000 Anwerbungen aus dem Ausland drin. Wo stehen wir heute?

Die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat im vergangenen Jahr rund 650 internationale Pflegefachkräfte über ihre eigenen Programme nach Deutschland vermittelt. Das klingt zunächst wie ein Tropfen auf den heißen Stein, aber ich würde das relativieren. Die BA ist ja hier nicht allein tätig. Es gibt zahlreiche private Agenturen, die in größerem Umfang Pflegefachkräfte aus dem Ausland anwerben. Wir als Bildungsträger arbeiten mit vielen zusammen und sehen, dass die Vermittlung stark zunimmt. Als grobe Schätzung würde ich sagen, wir stehen heute bei 5.000 bis 7.000 pro Jahr. Eine Verdoppelung oder Verdreifachung wäre durchaus drin, wenn wir die Rahmenbedingungen verbessern.

Was ist zurzeit das größte Hindernis?

Ganz klar die Komplexität des Anerkennungsverfahrens der Ausbildung in den Herkunftsländern. Das ist ein schwieriges Feld und die Prozesse dauern viel zu lange. Natürlich braucht es eine fachliche Qualifizierung, aber der bürokratische Aufwand, die unterschiedlichen Anforderungen der Landesbehörden und oft auch die Beschaffung von Unterlagen machen den Prozess schwerfällig und ziehen ihn in die Länge. Auch die Verfahren der Ausländerbehörden sind zu langwierig, weil dort ebenfalls ein Personalmangel in der Sachbearbeitung besteht, so dass beispielsweise Termine für Verlängerungen von Aufenthaltstiteln teils  extrem schwer zu bekommen sind, was viele Fachkräfte und Arbeitgeber sowie Agenturen frustriert. In den Herkunftsländern sehen wir seit dem ersten Fachkräfteeinwanderungsgesetz bei deutschen Botschaften schon eine Verbesserung. Wenn die Voraussetzungen gegeben sind, werden Visa zügiger erteilt als vorher.

Wie lange dauert es, bis eine angeworbene Pflegekraft in Deutschland anerkannt ist?

Wer die deutsche Sprache schon ein bisschen gelernt hat und mit B1 zu uns kommt, muss auf die Anerkennung sechs bis zwölf Monate warten und dafür einen Anpassungslehrgang oder Vorbereitungskurs mit Kenntnisprüfung absolvieren und sich sprachlich bis zum B2 und zunehmend in vielen Bundesländern auch zur so genannten Fachsprachenprüfung qualifizieren. Es kann aber auch sein, dass sich dieser Prozess über zwei Jahre hinzieht oder noch länger dauert.

Was sind die wichtigsten Herkunftsländer?

Das hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt. Ab 2010 setzte man mit der EU-Osterweiterung große Hoffnung auf Polen, Bulgarien, Tschechien und Rumänien. Aber da hat sich schnell herausgestellt, dass diese Kräfte lieber woanders hingegangen sind, wo es attraktiver war. Auch die Fachkräfte aus Spanien sind nach kurzer Zeit zurück in ihre Heimat gegangen, weil sich dort die wirtschaftliche Situation verbessert hatte. Zudem  hatten sie oftmals ein anderes Pflegeverständnis, weil sie in der Heimat als Fachkräfte nicht für Grundpflege eingesetzt werden und diese Tätigkeit ablehnten. Dann kamen Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien. 2013 öffnete sich Deutschland für die Philippinen, die in den 1960er und 1970er Jahren schon einmal angeworben wurden. Jetzt hat die Bundesregierung Mexiko und Brasilien in den Fokus genommen. Insgesamt kann man sagen, dass sich die Herkunftsländer  verschieben, je nach demographischer und politischer Entwicklung.

Inwieweit lässt sich das gerade verabschiedete Fachkräfteeinwanderungsgesetz auf die Pflege anwenden?

Das Gesetz gilt erst einmal allgemein für alle Berufe, speziell für die Pflege steht dort nichts drin. Das Anerkennungsverfahren wird damit nicht beschleunigt oder vereinfacht, weil das ja – wie gesagt – Ländersache ist. Positiv in dem neuen Gesetz ist jedoch, dass die Anerkennungsfrist verlängert worden ist. Bislang hatten Bewerber für die Anerkennung maximal 24 Monate Zeit, um den Fachkraftstatus zu erhalten oder sie mussten wieder ausreisen. Das hat aber in vielen Fällen nicht ausgereicht. Durch das neue Gesetz haben sie nun in der Regel zwei und maximal drei Jahre Zeit. Das ist schon mal eine große Hilfe. Zudem wurden auch anerkannte Pflegehilfskräfte in das Gesetz eingeschlossen, die nun ebenfalls angeworben werden können. Bisher können nur Fachkräfte kommen, die eine Ausbildung von mindestens zwei Jahren absolviert haben. Deshalb konnte man bisher gar keine Pflegehelfer anwerben, außer aus dem Westbalkan, wofür es eine Sonderregelung gab. Das ist jetzt anders und ein wichtiger Schritt nach vorne.

Reicht das nun aus?

Nein, es braucht noch weitere Regeln zu einer vereinfachten Anerkennung der Abschlüsse. Dafür gibt es auch eine Gesetzesinitiative des Bundes. Im Rahmen des sogenannten Pflegestudiumstärkungsgesetzes soll die Anerkennung ausländische Abschlüsse in der Pflege vereinheitlicht und vereinfacht werden, unter anderem mit vereinheitlichen Anforderungen an vorzulegende Dokumente im Anerkennungsverfahren, neuen Mustergutachten zu ausländischen Pflegeabschlüssen durch die Gutachtenstelle für Gesundheitsberufe und die Möglichkeit einer so genannten anwendungsorientierten Parcoursprüfung. Dieses Gesetz ist vom Kabinett verabschiedet, aber noch nicht vom Bundestag beschlossen. Es braucht aber auch noch mehr, wie eine starke Digitalisierung und Zentralisierung der Prozesse statt bei vielen Einzelbehörden. Dringend erforderlich sind auch Sprachförderprogramme schon im Heimatland, damit die Fachkräfte den Sprung nach Deutschland schaffen.

Die Anerkennung der Abschlüsse ist doch Ländersache.

Das stimmt. Der Gesetzgeber des Bundes kann nur die Grundregeln aufstellen, die Bundesländer führen das dann als eigene Verwaltungsangelegenheit aus. Da liegt auch das Problem. Die Anerkennungsbehörden in den Bundesländern sind verstreut und personell unterbesetzt, gerade wenn ich an Bayern und Baden-Württemberg denke. Dort dauert es viel zu lange und schreckt die Leute in den Herkunftsländern eher ab.

Ist es für Pflegekräfte aus dem Ausland überhaupt attraktiv, nach Deutschland zu kommen?

Das ist eine gute Frage. In vielen Ländern wird die Pflege im Rahmen eines Hochschulstudiums gelehrt und gelernt. In Deutschland ist das ein Ausbildungsberuf. Das hat zwar auch Vorteile, weil bei uns viel mehr Praxis zur Ausbildung gehört. Andererseits fühlen sich internationale Fachkräfte, die ein Studium absolviert haben und nach Deutschland kommen, in ihrer pflegerischen Kompetenz eingeschränkt. Wer zum Beispiel in Spanien studiert hat, darf alleine Spritzen verabreichen. Die Fachkräfte dort reden fast auf Augenhöhe mit dem Arzt. Hier sind sie dagegen nur ausführendes Organ und werden neben der Behandlungspflege auch für Grundpflegetätigkeiten wie Waschen oder Anziehen eingesetzt, die bei ihnen zuhause Assistenten oder die Familien der Pflegebedürftigen übernehmen. Deshalb gehen viele studierte Pflegekräfte lieber gleich in andere Länder.

Ist das der einzige Grund?

Nein, weitere Probleme sind Akzeptanz in der Gesellschaft und Erfahrungen mit Diskriminierung. Daran müssen wir auch noch arbeiten. Zum Beispiel durch einer Anti-Diskriminierungskomponente beim Fachkräfteeinwanderungsgesetz oder in den Integrationsgesetzen der Bundesländer, damit die Menschen, die zu uns kommen, etwa leichter eine Wohnung finden und sich von Behörden nicht als Menschen zweiter Klasse behandeln lassen müssen oder Diskriminierung am Arbeitsplatz unterbunden wird.

Das Interview führte Thomas Hartung

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