Die neue Personalbemessung ist kontraproduktiv
Am 1. Juli 2023 tritt die neue Personalbemessung in der Pflege PeBeM in Kraft. Jede vollstationäre Pflegeeinrichtung muss dann bis 2025 den individuellen Personalbedarf berechnen und entsprechend qualifiziertes Personal vorhalten. Prof. Wolfram Schottler, Prof. Martina Hasseler und Annemarie Fajardo halten die PeBeM für praxisfern und erklären in einem Gastbeitrag, warum.
Mit der Personalbemessungsleitlinie sollen stationäre Pflegeeinrichtungen künftig berechnen, wie viel Personal sie mit welcher Qualifikation einstellen müssen. Anstelle der bisher starren Fachkraft-Quote soll der tatsächliche Personalbedarf nun an der Anzahl der Heimbewohner und deren Pflegegrad berechnet werden. Dabei soll dann der Einsatz von vier verschiedenen Qualifikationsstufen geplant werden:
- Pflegefachkräfte
- Assistenzkräfte mit zweijähriger Ausbildung
- Assistenzkräfte mit einjähriger Ausbildung
- Hilfskraftpersonal ohne relevante Ausbildung
Wieviel Personal vorzusehen ist, regelt die Personalbemessung nach § 113c Sozialgesetzbuch XI. Beispielsweise wird bei einem Bewohner des Pflegegrads 5 der Einsatz einer Pflegefachkraft mit mindestens 0,3842 Vollzeitäquivalenten verlangt.
Pflegefachliche Fragestellungen werden missachtet
Auch wenn angesichts von Personalengpässen vor allem bei Fachkräften die Idee verständlich ist, gut ausgebildetes Fachpersonal gezielter da einzusetzen, wo konkreter Bedarf ist, ist der Ansatz praxisfern. Und ob aber daraus tatsächlich Erleichterung der Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte, mehr Effizienz sowie Pflegequalität resultieren, erscheint wenig wahrscheinlich. Ernüchternd ist nämlich die Missachtung pflegefachlicher Fragestellungen:
- Die Entwicklung des Pflegepersonalbemessungsinstrumentes ist sehr kritisch zu betrachten. Berechnete Pflegegrade nach SGB XI geben keine Erkenntnisse über die tatsächlichen Pflegebedarfe. Zugrunde liegt hier ein völlig obsoletes Verständnis von zeit- und verrichtungsorientierter Pflege, dessen Kompetenzzuordnung pflegewissenschaftlich und -praktisch jeder nachvollziehbaren Grundlage entbehrt.
- Der technokratischen Berechnung einer optimierten Personaleffizienz mit der jeweils richtigen Qualifikationsstufe ergibt nur bei akribischer Ausnutzung der berechneten Optimierung des Einsatzes wirtschaftlichen Sinn. Auch im Management hilft die theoretische Berechnung von Sollstärken in verschiedenen Qualifikationsstufen nicht bei der Mitarbeitergewinnung, sie berücksichtigt keine Arbeitsverträge oder individuellen Arbeitszeit- und Arbeitsortwünsche und unterstützt keinerlei individuelle Kompetenzen und Qualitäten. Hinter dem mathematischen Modell der Mitarbeiterdisposition steht ein seltsames Bild von Pflegekräften als beliebige Verschiebemasse: "Tetris mit Pflegepersonal"?
- Bestenfalls ist in der Dienstplanung bei wechselnden Belegungen mit unterschiedlichen Pflegegraden oder personellen Engpässen ein Arbeitsplatzwechsel zwischen Abteilungen denkbar; zwangsläufig geht diese Planflexibilität aber zu Lasten der Pflegequalität. Viel zu oft werden alte Menschen in Einrichtungen jetzt schon nur noch anonym bedient.
- Für keine der definierten Tätigkeitsstufen gibt es derzeit vollinhaltlich definierte Berufsbilder mit abgrenzbar definierten Stellenbeschreibungen. Insbesondere für die Assistenzkräfte sind Aufgaben und Kompetenzen bestenfalls rudimentär, keinesfalls aber konsistent, einheitlich und verbindlich geregelt. Auch wenn nicht für jede Tätigkeit die Qualifikation immer höher gesetzt werden kann, gibt es für die hier genannten Assistenzaufgaben noch keinen überzeugenden Plan, welche Zuständigkeiten und Befugnisse sie in Abgrenzung von Fachkräften (darüber) und Hilfskräften (darunter) haben sollen.
- Bei der Propagierung der Assistenzkräfte wird von verschiedenen Fachkreisen ein weiteres Downgrading für den gesamten Berufsstand der Pflege bemängelt. Auch wenn nicht permanent nach oben graduiert werden kann, sondern auch einfache Aufgaben qualifiziert abgearbeitet werden müssen, ist es eine Grundbedingung, dass die Qualifikationsstufen und ihre Zuständigkeiten zuvor definiert, abgegrenzt und im Aus- und Weiterbildungssystem implementiert sind. Schon jetzt liegen hierzulande Befähigung und Zuständigkeiten von Pflegekräften im internationalen Vergleich so niedrig, dass eine weitere Reduzierung den Schwund an Fachkräften und Interessenten für den Pflegeberuf nur weiter beschleunigen wird.
- Bislang gibt es keine Aussagen für verbindliche Aus- und Weiterbildungsstrukturen. Das verwundert nicht, wenn es keine klaren Kompetenz- und Qualifikationsbeschreibungen für die Stufen gibt. Assistenzkräfte, die mangels klarer Stellenbeschreibung und Qualifikation kein eigenes Tätigkeitsprofil haben, haben gegenüber ungelernten Hilfskräften mit nahezu denselben Tätigkeiten weiter keinen eigenen Berufsmarkt. Sie sind nämlich weder wirtschaftlich für die Einrichtungen, noch eine berufliche Perspektive für junge Menschen.
- Zwar bezieht sich die neue Personalbemessungsvorgabe auf Leistungen nach SBG XI, die überwiegend die Alten- und Angehörigenpflege betreffen, denn Fachkrankenpflege nach SGB V in Krankenhäusern oder der ambulanten Intensivpflege ist aber etwas ganz anderes und verlangt andere Kompetenzen, aber in den Diskussionen wird beides unglücklich miteinander vermischt. Dies ist ein systematischer Fehler, der aber von Unverständnis für die Bedeutung und Qualität von richtiger Fachkrankenpflege und den anderen Anforderungen guter Altenpflege zeugt. Fest steht, dass das Modell für Fachkrankenpflege mit Leistungen nach dem SGB V überhaupt nicht anwendbar ist.
Fazit: Mit technikverliebten, aber fachlich dysfunktionalem Regelungsflickwerk erodiert die Qualität für gute Fachpflege leider weiter. Mitarbeiter werden wie Verschiebemasse zum unpersönlichen Planungsfaktor und logischerweise in ihren Berufsbedingungen weiter demotiviert. Die Konsequenz wird anstelle der reklamierten Hoffnung auf nachhaltige Personalsicherung und Pflegequalität sein, dass die Bildung eines Berufsethos für die Pflege mit einer selbstbewussten Berufs- und Weiterbildungsordnung weiter in die Ferne rückt.
Die Autoren (von links): Prof. Wolfram Schottler ist Geschäftsführer der BAWIG Pflegeakademie; Professor Martina Hasseler von der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften in Braunschweig und Annemarie Fajardo, Dozentin, Beraterin und Vizepräsidentin des Deutschen Pflegerats.
Die ungekürzte Fassung des Beitrags lesen Sie auf der Website der Interdisziplinären Gesellschaft für Bildung in der Pflege.